Die Gottlosen [Les Athées], 2007, mise en scène de Stefan Bachmann

Die Gottlosen [Les Athées], mise en scène de Stefan Bachmann

Maxim Gorki Theater, Berlin, Allemagne

Mise en scène : Stefan Bachmann
Scénographie : Michael Simon
Costumes : Annabelle Witt
Musique : Felix Huber
Dramaturgie : Andrea Koschwitz

Traduction en allemand : Herbert Meier

Die Geisel [L’Otage]
Avec : Peter Kurth (Toussaint Turelure) ; Anja Schneider (Sygne de Coûfontaine) ; Sebastian Blomberg (Georges de Coûfontaine); Ulrich Anschütz ; Andreas Leupold

Das Harte Brot [Le Pain Dur], avec : Peter Kurth (Toussaint Turelure) ; Mélanie Kretschmann (Sichel) ; Florian Stetter (Louis de Coûfontaine) ; Anja Schneider (Lumir); Andreas Leupold ; Sebastian Blomberg

Der Ernidriegte [Le Père humilié]
Avec : Ulrich Anschütz ; Mélanie Kretschmann (Sichel); Ruth Reinecke (Pensée);  Sebastian Blomberg (Orian); Florian Stetter (Orso) ; Andreas Leupold ;  Peter Kurth

Une traduction en français de cet entretien a paru dans le Bulletin de la Société Paul n°186.

Die Gottlosen. Entretien avec Stefan Bachmann

Ein Gespräch zwischen Michael Haerdter und Stefan Bachmann anlässlich von dessen Inszenierung der „Trilogie“ Claudels am Maxim-Gorki-Theater, Berlin, im April 2007

Michael Haerdter:

Vor fast genau vier Jahren erlebten die Zuschauer in Basel Ihre bejubelte Inszenierung von Claudels „Seidenem Schuh“: Grosses Welttheater im nachgebauten Totaltheater von Gropius. Den Kritiken ist zu entnehmen: Das war Genusstheater auf hohem sinnlichen und geistigen Niveau.

Dazu zwei Fragen:

– Was hat Ihre Entscheidung für Claudel und seinen „Seidenen Schuh“ bestimmt?

– Weshalb haben Sie für Ihre zweite Inszenierung nach einer Claudelschen Vorlage die kaum

weniger umfangreiche, aber wesentlich sprödere Trilogie gewählt?

Stefan Bachmann:

Zwei große Fragen. Also zu Nummer eins: Diese Epenform, die der „Seidene Schuh“ hat, in exzessiver Form, das, was mich schon immer interessiert hat, es war ja am Ende meiner fünfjährigen Direktionszeit in Basel – ich habe mir sehr gewünscht, mich mit einem solchen Theaterspektakel zu verabschieden und habe dazu eigentlich einen Stoff gesucht. Es war nicht so, dass mir Claudel schon immer im Hirn rumspukte, ich habe einen großen epischen Stoff gesucht und bin dann beim Rumschweifen und Rumschnuppern auf diesen „Seidenen Schuh“ gekommen. Dann kam sofort die Lust hinzu, die ich auch habe, auf verborgene, versteckte, unbekannte Stoffe. Vom „Seidenen Schuh“ hatte ich schon irgendwo mal gehört, das Stück aber nie gesehen. Und es war mir auch klar, dass es nirgendwo, jedenfalls lange Zeit nicht gemacht worden war – in Deutschland, im deutschen Sprachraum. Ich fing an, es zu lesen. Und merkwürdigerweise hat mich ein Umstand besonders interessiert, dass ich nämlich überhaupt nichts verstanden habe. Also ich fing an das Stück zu lesen und konnte es überhaupt nicht einordnen. Ich hab es nicht zu fassen bekommen. Hab das zusammen mit meiner Frau gelesen, die ich damals gerade kennen gelernt hatte. Wir waren frisch verliebt, saßen auf Mallorca, im Wind der Balearen, so heisst ja auch der vierte Teil des Stückes, saßen auf den Balearen, haben es gelesen und waren begeistert ohne irgendetwas zu verstehen. Und das hat mich irrsinnig neugierig gemacht. Dann fing ich an, mich in den Stoff einzuarbeiten. Dann kam noch eine Sache hinzu: Kurze Zeit später hat mich Gérard Mortier, der die Ruhrfestspiele geleitet hat, gefragt, ob ich irgendeine Idee hätte für eine Koproduktion. Ich sagte ihm, ich hab da gerade so ein Stück gelesen, ich finde es fantastisch, ich wüsste auch nicht warum… Und da hat er als ehemaliger Jesuitenschüler sofort aufgejauchzt und gesagt, das ist ein Traumprojekt, er war Feuer und Flamme. So haben wir dieses Feuer entfacht. Bei meinen eigenen Dramaturgen hatte ich es hingegen relativ schwer, die fanden es eher befremdlich, eher sperrig, eher unverständlich, so wie es mir am Anfang auch gegangen ist. Aber da war ich schon so weit eingearbeitet, dass es kein Zurück mehr gegeben hat. So ist es zustande gekommen. Wie Sie in Ihrer Einleitung gesagt haben – wir stützten uns auf die Pläne vom Totalen Theater in anderem Maßstab, also nicht für 3000, sondern für 400 Plätze, in unserem Basler Foyer, das sehr groß ist. Wir haben es so gebaut, dass die Zuschauer von mehreren Kreisen umgeben waren, planetarischen Kreisen, sodass sie vom Spiel immer mehr umkreist waren. Es war so eine Show aus Globe-Theater und Zirkusmanege. Die Arbeit am Stück hat mich wahnsinnig begeistert, weil ich gemerkt habe, dass es ein Autor ist, mit dem die Beschäftigung so unendlich wird, weil die Texte so unendlich vielschichtig und reich sind und in ihrer Vielfalt und Bedeutung eigentlich ganz unlösbar. Und das fand ich alles schon sehr sehr spannend, sagen wir mal, der „Seidene Schuh“ war wirklich eine abenteuerliche Reise in eine ferne Zeit, ins 16. Jahrhundert, was bei Claudel ja auch fiktiv ist. Es spiegelt die historischen Ereignisse, bringt sie wild durcheinander, benutzt sie so wie es ihm passt. Eine Reise auch in diese katholische Thematik, was mir sehr fremd gewesen ist, mich aber sehr berührt, sehr begeistert hat. Ich bin konfessionslos. Es war schon so ein Erlebnis, ein so saftiges, buntes, tolles Stück kennen zu lernen. Da gab es viele Vorurteile, die ich über den Haufen werfen musste, die Sinnlichkeit, die Erotik, die Lust am knackigen … … , am Fabulieren undsoweiter. Schon verblüffend. Glücklicherweise ist es ein großer Erfolg geworden, bei aller Menge und Sperrigkeit haben sich die Leute von der Opulenz einnehmen lassen. Acht Stunden haben wir gemacht, wir haben zwar gestrichen, aber so, dass alle vier Tage erhalten sind. Und es ist das eingetreten, was wir uns erhofft hatten, dass über Stunden hinweg Schauspieler und Zuschauer irgendwie zur Einheit geworden sind. Man hatte ein gemeinsames Erlebnis am Schluss.

M:H: : Nun zur „Trilogie“…

St.B. : Was die „Trilogie“ betrifft – nach dem „Seidenen Schuh“ entstand ein großes Loch für mich, Ich bin dann mit meiner Frau, meiner kleinen Familie – ein Kind – auf Weltreise gegangen. Das war auch geplant. Lustigerweise haben wir einige Stationen vom „Seidenen Schuh“ dann auch abgeklappert, die Orte in natura erlebt. Der Autor, das ist mir klar geworden, hat mich nicht mehr losgelassen, ich habe den „Seidenen Schuh“ immer wieder gelesen, wir haben viel darüber gesprochen, das hat mich sehr bewegt. Und als ich zurückgekommen bin hat mir der Herbert Meier, der damals den „Seidenen Schuh“ für uns neu übersetzt hatte – ich kann gar nicht genug betonen, wie gut er das gemacht hat, so, dass es eigentlich erst wieder möglich wurde. Er hat mich auf die „Trilogie“ aufmerksam gemacht. Er hatte sie übersetzt, hatte in der Zwischenzeit, in diesem Jahr einfach weiter gearbeitet und hat mir seine Übersetzung vorgelegt. Besser gesagt, hat mich aus sie aufmerksam gemacht, ich hab sie in der alten Fassung gelesen, denn er war noch dran … und hat mich gefragt, ob es da ein Interesse gibt, ob er weitermachen soll. Ich hab also angefangen sie zu lesen, war im ersten Moment ein bisschen von der Sprödigkeit sozusagen irritiert, aber hab dann gemerkt, da geht ja auch wieder ein wahnsinniger Kosmos auf. Hab mich dann auch sehr in das Projekt verliebt, hab ihm auch sofort gesagt, ich will es unbedingt machen, und ging dann auf die Reise, um ein Theater zu finden. Bin aber in vielen Dramaturgien, trotz des Erfolgs des „Seidenen Schuh“ abgeprallt, bis dann das Maxim Gorki Theater zugegriffen hat.

M.H. : Ich will ein paar highlights Ihrer Inszenierung hervorheben, die mir besonders gefallen haben:

– Die Symbolik der Kreide-Umrisse (Kreide hatten Sie ja schon im „Seidenen Schuh“

eingesetzt) – die Figuren sind in ihre Silhouetten gebannt, ihr Schicksal ist – von oben –

vorbestimmt, ihre Willensfreiheit eingeschränkt.

– Das gilt auch für die schöne Szene, in der Turelure die passive Sygne einkleidet: er macht

sie zu seinem Geschöpf. Auch der kleine Louis, abgelehnt von der Mutter, scheint in der

Einkauftüte von seinem Vater im Kaufhaus erstanden zu sein.

– Aufs Ganze gesehen sind jedoch Claudels Frauen die tatkräftigeren, die freieren Menschen

im Vergleich mit den männlichen Rollen, und dem gibt Ihre Inszenierung Gewicht…

Welches war Ihr Konzept in der Inszenierung der „Trilogie“?

St.B. : Also erstmal wollte ich für jeden Teil der „Trilogie“ eine eigene Bildsprache entwickeln, einen eigenen Stil erfinden, weil ich das Gefühl hatte, dass sie zwar eine Einheit bilden, aber jeder steht auch exemplarisch für eine Epoche. Mit einer zugespitzten Epochenbeschreibung. Der erste Teil ist ja noch ein düsterer Debattierkrieg, kann man sagen; das zweite Stück hat so ne Farce; das dritte hat so eine elegische Märchenhaftigkeit. Das meinte ich aus den Stücken vom Ton, vom Klang herauszulesen. Das war schon mal so ein Konzept: Nicht etwas Einheitliches daraus machen, sondern drei Teile, die jeder für sich stehen, gerade weil sie an einem Abend gezeigt werden und sich gegenseitig in ihrer Formenvielfalt komplettieren. Trotzdem gibt es Motive, die wieder auftauchen. Es war mir wichtig, dass es auch so verstanden wird. Zum Beispiel die Kreide-Umrisse, wo von Anfang an so eine Determiniertheit gezeigt wird, der Mensch kommt von seinem eigenen Schatten nicht los. Das ist etwas, das im dritten Teil ästhetisch wieder auftaucht, wo die Umrisse durch Lichtkegel ersetzt, mit einer Schattenwelt gespielt wird. Was in dritten Teil darüber hinaus auch für Pensées Blindheit steht, wo sie in einer Szene einmal vollkommen schwarz ist, jemand, der in einer Schwärze gefangen ist, undsoweiter. Ich habe also versucht, eine Bildsprache zu entwickeln.

Das andere Konzept – es hat sich ja eigentlich von alleine verstanden – war es, texttreu zu sein, sich hinter den Text zurückzunehmen und den Text wirklich stark zu machen, was ja im heutigen deutschen Theater nicht immer so ist. Das finde ich bei Claudel eigentlich die Voraussetzung, weil er vor allem in seiner Sprache lebt. Das war schon ein Experiment, ein Wagnis. Obwohl es ja mal des Theater war, ist es heute aber in Verruf. Es ist ja nicht gesagt, ich merke das auch an den Kritiken, dass das unbedingt willkommen geheissen wird. Eine Kritik hat das geradezu frenetisch gefeiert, die in der „Frankfurter Rundschau“. In den anderen Kritiken wird es eher so weggebürstet. Was mir eigentlich auch relativ egal ist, weil es die Zuschauer sind, die wieder eine Lust haben sich auf Sprache einzulassen.

M.H. : Der französische Regisseur Christian Schiaretti nennt u.a. zwei Gründe, die davon abschrecken können, Claudel zu inszenieren:

– einen ideologischen Grund wegen eines Vorurteils gegen seinen Konservatismus

– einen spirituellen Grund, nämlich die Weigerung sich mit einer katholischen Dramaturgie

im Namen einer weltlichen Idee des Theaters zu befassen …

(Schiaretti hat es trotzdem gewagt und vor ca. drei Jahren „Die Verkündigung“ in TNP Lyon /Villeurbanne herausgebracht).

Haben solche Gründe für Sie im Vorfeld Ihrer Wahl Claudels eine Rolle gespielt?

Wie – nicht zuletzt – haben Ihre Schauspieler in Basel und vor allem im ‚gottlosen’ Berlin auf die Herausforderung Claudel reagiert?

St.B. : Also für mich ist das ja eine Herausforderung und kein Hinderungsgrund. Da hat jemand eine Position, die uns eher fremd ist, ich kann sagen, dass auch unter den Schauspielern kein einziger Katholik dabei. Ich hab von Anfang an probiert, die Leute davon zu überzeugen, da es sehr spannend sein kann, mal eine radikale Perspektive, eine radikale Position einzunehmen. Ich hab auch gesagt, es interessiert mich überhaupt nicht, dass wir hier politisch korrekt, kirchenkritisch, also so liberal-demokratisch wie wir normalerweise unterwegs sind, uns mit Claudel befassen. Wenn wir das tun, müssen wir versuchen, die Perspektive von Claudel so gut es uns möglich ist auch wirklich einzunehmen. Wir können das sozusagen nur als bekennende Katholiken tun. Das ist natürlich so ein bisschen eine Konstruktion, denn das wird natürlich ein Schauspieler nicht in drei Monaten. Ich habe jedenfalls einiges dafür getan, dass es zumindest ein Bewusstsein dafür gibt … Wir haben Priester eingeladen, Mönche eingeladen, mit denen wir diskutiert haben. Ich habe mich sehr gut eingearbeitet in die ganze kirchliche Thematik, auch in die christliche Symbolik. Wir haben sehr viel auf den Proben geklärt und besprochen, wir sind wirklich jede Zeile des Textes durchgegangen, haben sie abgeklopft. Also ein grosser Teil der Arbeit war Textarbeit, weil viele damit nicht zurechtgekommen sind. Sie konnten das gar nicht recht einordnen. Da gibt es in den Texten auch ganz viele Anspielungen auf die katholische Liturgie, wo Claudel mit vielen Versatzstücken aus der Liturgie spielt ohne eine Messe zu imitieren. Trotzdem bedient er sich ja in vielen Anklängen der ganzen biblischen Gleichnisse rauf und runter – was ist der Verlorene Sohn, was ist das verlorene Schaf, das strauchelnde Schaf, also da war sehr viel zu klären. Das fand ich aber toll, davon haben sich die Schauspieler schon anstecken lassen, denn wenn sie auch ihre Ideologie oder ihre Meinung nicht über den Haufen geworfen haben, trotzdem gemerkt haben, da kann man was lernen, und es macht auch Spaß sich in so was hineinzudenken. Und das ist eigentlich wirklich gut gelungen. Am Ende war jeder Skeptiker dann auch entzündet. Das war ein wirklich schönes Erlebnis. Und beim „Seidenen Schuh“ in Basel war es ganz genauso. Es gibt einfach auch ein Bedürfnis, mal wieder über den eigenen Tellerrand hinauszudenken, sich in etwas anderes hineinzuversetzen. Das wird heute ja selten gemacht, weil Theater heutzutage aus der eigenen Befindlichkeit heraus gemacht wird, ja. Und das finde ich so wahnsinnig langweilig. Das ist bei Claudel die Herausforderung, die Reise woandershin. Ich kann es von mir ganz persönlich beschreiben: Von ihm kannst Du was lernen und das macht mir Spaß.

M.H. : Hat Peter Laudenbachs Kritik der „Gottlosen“ in der SZ vom 2. April die „Trilogie“ und Ihre Inszenierung missverstanden? Ihr Versuch einer Wiederentdeckung Claudels, behauptet er, bedeute das vorläufige Ende der Bemühungen um Claudel. Doch an ihm haben sich die Geister schon immer geschieden…

Zeitgleich mit „Die Gottlosen“ hatte Claudels „Mittagswende“ (Partage de midi) an der Comédie Francaise Premiere. Glauben Sie an eine Renaissance des Claudelschen Theaters? Planen Sie selbst, daran weiterhin mitzuwirken? Haben Sie vielleicht schon einen konkreten Plan?

St.B. : Also zu Herrn Laudenbach – ich hab seine Kritik gar nicht gelesen, ich habe nur gehört, dass sie ein Verriss ist.

Für mich ist jedenfalls klar: Die Wiederkehr dieses Autors ist noch lange nicht abgeschlossen. Da gibt es noch zahlreiche Stücke, ob es „Der Tausch“ ist, ob es „Die Verkündigung“ ist …

M.H. : Auch sein Kolumbus …

St.B. : Ja, es ist zu prüfen, ob man damit auch noch mal was macht, sehr schwierig, aber ein tolles Stück. „Die Mittagswende“ natürlich. Da gibt es noch einiges. Ganz abgesehen davon, ich denke, dass mir auch der „Seidene Schuh“ noch nicht hundertprozentig gelungen ist, ich trage mich mit dem Gedanken, auch da noch einmal ranzugehen … Mit Claudel habe ich jedenfalls jemanden gefunden, an dem ich mich abarbeiten kann. Es ist so etwas wie ein Geschenk. Da muss man treu bleiben und darf Und man darf bei der ersten Feindberührung nicht gleich umfallen. Das wäre nicht im Claudelschen Sinn.

M.H. : Während man sich in Frankreich zum eigensinnigen Dichter Claudel lange auf Distanz hielt, fand er in Deutschland schon früh eine Gemeinde von Verehrern.

(Zur Erinnerung: Bereits vor dem 1.Weltkrieg gründete C. mit dem Verleger und Über-setzer Jakob Hegner, mit Emil Strauß und Martin Buber in Dresden/Hellerau den „Verein Hellerauer Schauspiele“ zugunsten der Aufführung „dramatischer Werke monumentalen Stils“ – In Hellerau kam es zur Uraufführung von „Die Verkündigung“, L’annonce faite à Mari). Es folgten weitere Uraufführungen in Deutschland:„Das Buch von Christoph Columbus“ mit der Musik von Darius Milhaud 1930 an der Staatsoper Berlin – „Der Ruhetag“, Le repos du septième jour, 1956 in Essen – „Der erniedrigte Vater“, Le père humilié, 1945 in München – Claudels letztes Stück „Tobias und Sara“, L’histoire de Tobie et de Sara, 1953 am Deutschen Schau-spielhaus in Hamburg in Anwesenheit Claudels. Zahlreiche deutsche Erstaufführungen folgten oft unmittelbar im Anschluss an die Claudel-Rezeption durch Jean-Louis Barrault in Frankreich in den fünfziger Jahren, u.a.m.)

Gab und gibt es im deutschsprachigen Raum eine besondere Affinität für Claudels Botschaft, die eine Claudel-Renaissance begünstigen könnte?

St.B. : Das ist für mich schwer zu beurteilen. Jossi Wieler hat die „Mittagswende“ gemacht, ich finde, er hat das sehr schön gemacht, aber eigentlich an Claudel vorbei. Das, was religiöse

Ekstase ist, das Rauschhafte, das hat er nicht gemacht, zugunsten eines erotischen Quartetts, was auch legitim ist … Ansonsten weiss ich gar nicht, wenn ich mich so umgucke, es gibt da sonst gar niemanden, jetzt im Moment, der das gerade betreibt. Insofern bin ich da noch skeptisch. Ich würde mich natürlich freuen, wenn noch jemand dazukäme. Aber von einer Renaissance kann man, finde ich, erst sprechen, wenn die Rezeption Claudels auf einer breiteren Fläche wieder erweckt würde. Ich glaube aber, dass man doch irgendetwas bewirkt, und wäre es nur, dass bestimmte Dramaturgen einfach mal wieder den Namen hören und nicht umhin können, den Autor mal wieder zur Kenntnis zu nehmen.

M.H. : Claudel lässt uns in seiner „Trilogie“ an sechs Jahrzehnten Zeitgeschichte am Beispiel einiger Generationen im 19. Jahrhundert teilnehmen. Des postrevolutionären Jahrhunderts der Aufklärung, des selbstbestimmten und bindungsfreien Menschen – damit auch all der negativen Konsequenzen, die Claudel anprangert. Eine Zeitenwende. Sie entspricht in vielem unserer heutigen Wendezeit. Vielleicht mit umgekehrtem Vorzeichen …

In Ihrem Mail an den Übersetzer Herbert Meier machen Sie jedenfalls deutlich, dass Sie die Moral der Familiensaga, also die Folgen der Aufklärung, den Tod Gottes eingeschlossen, auch auf uns Zeitgenossen beziehen, vor allem auf uns ungläubige Berliner. Läge es da nicht nahe, den von Ihnen gewählten übergreifenden Titel „Wir Gottlosen“ zu nennen? Oder machen Sie für sich eine Ausnahme, weil Sie ein gläubiger Mensch sind?

St.B. : (Er lacht) Nein. Ich glaube „Die Gottlosen“ klingt einfach besser. Vor allem bezieht sich der Titel aufs Stück. Das es auch um „Wir“ geht, muss man als Zuschauer erst noch vollziehen. Was mir an der „Trilogie“ so triftig erschien … So wie Claudel die Geschichte des 19. Jahrhunderts erzählt hat, erzählt er sie – und ich glaube, das ist auch tatsächlich so – wie wenn das 19. Jahrhundert tatsächlich die Wiege auch unserer Zeit gewesen ist. Man hat das Gefühl, hier entsteht der Mensch, hier entsteht die Gesellschaft, in der wir noch immer leben. Wir sind technisch noch ein bisschen weitergekommen, aber was da sozusagen anfängt, ob es der Kapitalismus ist oder die Technisierung oder die Säkularisierung, also wir sind eigentlich immer noch die Kinder des 19. Jahrhunderts. Und insofern finde ich das als eine Vision darauf, aus welchem Taufbecken wir sozusagen stammen. Das finde ich sehr interessant. Und dann ist es auch so, dass Claudel in seiner Jugend mit achtzehn – wenn er später zurückblickend sein Konversionserlebnis beschreibt, dann beschreibt er die Zeit wirklich auf eine Art und Weise, dass man sagen könnte, es könnte ein Text von heute sein. Er beschreibt eine indifferente, eine dekadente, eine orientierungslose Zeit, also es passt wirklich wie die Faust aufs Auge. Eine Zeit, in der er selbst eine Weile geschwelgt hatte, plötzlich merkt er, er kommt nicht weiter, und dass er eigentlich einen Halt gesucht hat. Der Herbert Meier hat es mal so gesagt, ein bisschen scherzhaft: vielleicht war der Katholizismus für Claudel das Bollwerk gegen den eigenen Wahnsinn. Was ich eine tolle These finde. Also ohne jemanden über die Psychologie den Glauben abzusprechen, darum geht es gar nicht, aber ich glaube schon, dass ihm das eine ungeheure Kraft verliehen hat, dieser feste Punkt ‚Glauben’, von dem aus er in die unterschiedlichsten Richtungen gehen konnte. Also, das muss ein Mensch sein, der hat sich in so viele unterschiedliche Menschen eigentlich noch mal aufgesplittet – dieser vollkommen professionelle Diplomat, der wirklich alles auch über Wirtschaft gewusst hat, der pedantisch genau gewesen ist, der Jurist war. Und er hat ein Künstlerleben geführt als Autor, er hat ein sehr religiöses Leben als Gläubiger, eben auch als ringender Gläubiger geführt, der sich bis zuletzt mit der Bibelexegese beschäftigt hat, was einen großen Raum bei ihm eingenommen hat, wenn man seinen Biografen Glauben schenken darf. Er war ein Papa, ein Patriarch, und viele Kinder da und viele Enkel. Und er hat am avantgardistischen Theaterleben teilgenommen. Das sind teilweise auch Dinge, die kriegt man gar nicht so ohne weiteres unter einen Hut. Es würde schon reichen: Diplomat und Autor, und doch gibt es da noch einige Aspekte mehr. Diese Polarität, diese Fähigkeit, sich in so unterschiedliche Kosmen reinzudenken – das spiegelt sich eben auch in seinen Stücken wider. Ich kenne kaum jemanden – deshalb auch der kühne Vergleich mit Dostojewski –, der so nachdrücklich die unterschiedlichsten Figuren beglaubigen kann. Das, finde ich, ist schon eine fantastische Qualität.

M.H. : Der Kirchenvater Ambrosius prägte im 4. Jahrhundert den Begriff der „felix culpa“ – einer seligen, weil heilsnotwendigen Schuld.

Claudels katholische Vision scheint dieser Idee einer „felix culpa“ verwandt zu sein: Viele seiner Geschöpfe – so auch Sygne de Coûfontaine – kommen durch ihre Schuld, ihr Schuldig-sein oder –werden, ihre Fehlleistungen – die wiederum ihre Entsagung, ihr Opfer und ihre Selbstaufgabe auf den Plan rufen – in den Genuss der göttlichen Gnade und Vergebung.

Hat dieses Claudelsche Leitmotiv in Ihrer Entdeckung des Dichters, für Ihre Wahl der Trilogie und in Ihrer Regiearbeit eine Rolle gespielt?

St.B. : Also hier begeben wir uns auf theologisches Glatteis, würd ich mal sagen, das sind so die ganz grundlegenden katholischen, theoretischen Fragen, ich weiss es nicht so genau. Ich weiss nicht, ob man das so sagen kann mit der Schuld bei Claudel. Nehmen wir das Opfer, die Anforderung, das Opfer aus reiner Freude zu erbringen, das ist ja ein unglaubliches Unterfangen. Und Claudels Haltung in der Trilogie ist, dass die Figuren daran scheitern. Diese Sygne, die eine ganz gläubige Frau ist, die sich nichts hat zuschulden kommen lassen, die wird nun ausgerechnet in dieses Dilemma hineingestellt: entweder den Papst zu verraten – oder ihn zu retten. Und eben dafür muss sie sich der ekligsten, der für sie schlimmsten, also der Teufelsfigur, der muss sie sich verkaufen, sich prostituieren. Das wäre das Opfer, das sie sozusagen freudvoll erbringen müsste, und schafft es aber eigentlich nicht. Im letzten Moment wir klar, sie kann sich diesem Mann, mit dem sie immerhin das Sakrament der Ehe eingegangen ist, nicht wirklich öffnen, sie verweigert ihm die Verzeihung, die Vergebung, sie will die letzte Ölung nicht, sie will das Kind nicht sehen. Und das ist auch gerade für Nicht-Christen eigentlich ungeheuer, denn man denkt, sie hat doch eigentlich alles richtig gemacht und jetzt ist es doch nichts … Da geht dann sozusagen auch für mich eine Tür auf, wo ich denke, aha, da fängt Glauben für mich an, interessant zu werden, denn Glauben ist ja eigentlich die Überwindung dieser Paradoxien. In „Die Zeit“ ist gerade der Artikel von Ratzinger (besser: Papst Benedikt?) über den Verlorenen Sohn erschienen, sehr sehr spannendes Thema: Warum wird der belohnt, der sich sündig, schuldig gemacht hat, und der, der immer da geblieben ist, der hat nix davon. Da, sagt Ratzinger, da fängt das an, was man die Grosszügigkeit nennt, grosszügig zu sein und zu wissen, es ist so. Das ist sehr schön beschrieben: Auch im dagebliebenen Sohn regt sich ja in dem Moment, wo er das nicht hassen kann, dass der, der abtrünnig war noch dafür belohnt wird, da regt sich in ihm der verborgene Wunsch, er wäre vielleicht auch selber gern in die Welt hinausgegangen. Und das jetzt zu überwinden, da fängt sozusagen die Leistung an, die ja auch eine große utopische Kraft hat – den eigenen Trieb zu überwinden. Ich kann das eigentlich kaum theologisch debattieren, ob das ein Opfer – wie haben Sie es genannt? – ob es die freudvolle Schuld …

M.H. : … die „felix culpa“, die heilsnotwendige Schuld …

St.B. : … ja, die heilsnotwenige Schuld ist. Wenn ich mit Experten, mit Theologen über diese Fragen diskutiere, da haben die ganz dezidierte Meinungen. Das sind Diskussionen, die auf hohem Niveau geführt werden. Da hab ich zu wenig Einblick. Was ich aber toll finde: Wie sich dieses biblische Motiv, dass sich diese Sygne vor Gott doch noch einmal schuldig gemacht hat, eigentlich im letzten Moment, dass das dann noch dazu führt, dass eine ganze Familiengeschichte davon geprägt wird, dass bis zum dritten Glied, bis zur Enkelin, dieser Pensée, diese Schuld noch nachwirkt und wahrscheinlich erst mit ihrem noch ungeborenen Kind überwunden werden kann. Das ist ja ein biblisches Motiv, die Schuld setzt sich fort bis ins dritte Glied, und ist auch für mich etwas zutiefst Psychologisches – wenn wir es psychoanalytisch untersuchen, kommen wir zu einem ähnlichen Ergebnis. Da finde ich es eben bei Claudel so interessant, da geht es auch über das reine Glaubensmotov wieder hinaus.

M.H. : Die Romantik war einst auch eine Antwort auf den Rationalismus und Materialismus der Moderne. Rimbaud war ein Romantiker: Seinen „Illuminations“ verdankt Claudel, so bekennt er, das Erlebnis der Existenz Gottes.

Muss man ein gläubiger Mensch sein, um Claudels Theater, um den religiösen Symbolismus vieler seiner Stücke, um seine Version eines Theaters als moralische Anstalt zu schätzen?

Oder sind die szenischen Qualitäten seines Theaters geeignet, auch Ungläubige zu fesseln?

St.B. : Wie Sie es sagen, in der Rimbaudschen Dichtung erkennt Claudel die Existenz Gottes – das ist doch unglaublich kühn! Nicht in der Bibel, sondern bei Rimbaud, diesem Ungläubigen, Wahnsinnigen – grossartig. Also das finde ich das Interessante bei diesem ganzen Katholizismus Claudels, der seinen Glauben ja immer als etwas sehr Rebellisches und Subversives, etwas Antibürgerliches verstanden hat. Sein eigener Gott! Georg Hensel hat einmal in seinem „Spielplan“ gesagt, Claudel schreibt Gott vor wie er seine Schöpfung zu sehen hat. Nein, das ist ja das Interessante bei Claudel, dass er kein Fremder ist, dass er aus dem Antibürgerlichen kommt, dass er seinen Glauben als etwas Rebellisches begreift, als etwas Subversives. Er hat einmal gesagt, der Bürger wohnt in der Beletage und unten treibt der Katholik sein Unwesen. Also diese Rimbaud-Inspiriertheit, die ja auch was mit Trunkenheit, mit Grenzüberschreitung, mit Wahnsinn, mit Exzessivität zu tun hat, mit Sinnlichkeit, das ist natürlich etwas, was diesen Dichter auch für Nicht-Katholiken total spannend macht. Wenn man sozusagen an der Sinnlichkeit interessiert ist … Deswegen finde ich das auch so armselig einfach zu sagen, weil er katholisch ist, können wir ihn nicht machen.

M.H. : Der Dichter Claudel hat ein poetisches Theater geschaffen, das auch Thomas Mann beeindruckt hat. Es zeichnet sich aus durch eine kunstvolle Sprachgestik, Pathos, einen hohen Konversationsstil. Claudel folgt darin der Tradition des klassischen französischen Theaters. Man könnte sagen: Die Deklamation der Ideen von Ruhm und Ehre im Alexandriner eines Corneille und Racine übersetzt in Claudels Prosa einer banaleren Zeit.

Ist Poesie im Theater, ist eine poetische Bühnensprache und damit die Poetisierung des Lebens, heute wieder möglich und erwünscht?

St.B. : Ich finde: ja, auf jeden Fall. Wir brauchen das sozusagen als utopische Kraft, Texte, die über unsere Alltagstexte hinausgehen, poetische Räume, Fantasieräume, Traumräume, die aufgehen. Also darin besteht für mich zum grossen Teil der Reichtum des Theaters überhaupt. Also bloß mimetisches Abbildtheater gerade in unseren bescheidenen, begrenzten Zeiten finde ich …

M.H. : … Ist das poetische Theater auch ein Gegenentwurf zur Verschluderung der Sprache, heute?

St.B. : Ich bin ja ein großer Verfechter … ich finde, jede Sprachform hat in gewisser Weise ihr Recht. Also ich finde, auch der Jugendslang – da habe ich keine konservative Einstellung – ist hochinteressant und erfindungsreich. Dann sozusagen auch, wie eine Sprache demontiert wird, das finde ich unter Umständen einen kreativen Vorgang. Ich glaube nur, es wäre zu eingleisig … Ich finde es ganz wichtig, dass es das andere eben auch gibt. Und da gibt es diese hochelaborierte, großartige, wuchtige, poetische Kraft von Claudel. Es ist klar, das ist in diesem Moment ein absoluter Gegenentwurf, so redet einfach niemand. Das merke ich auch, dass die Leute das bei der Aufführung dieser Stücke verbinden mit dem Wunsch, überhaupt mal wieder so eine Sprache zu erleben. Ich finde es schwierig, wenn man es so wertend versteht, es darf nur noch das geben. Wir wollen uns ja nicht nur in diesen hehren Gefilden bewegen, Sprache muss man unterschiedlich einsetzen dürfen.

M.H. : Unsere Wendezeit ist ambivalent: Einerseits nimmt die Austrittswelle aus den beiden christlichen Konfessionen zu, andererseits driften viele Europäer zu anderen Religionen ab, zum Buddhismus oder zum Islam. Das gegenwärtige Ungenügen an der westlichen Kultur und ihren Werten lässt manche von einer religiösen Wende auch in Deutschland reden, von Entsäkularisierung oder Respiritualisierung. Vielleicht geht es auch nur um ein Unbehagen wegen fehlender Form und Bindung, um Furcht vor Vereinzelung und sozialer Langeweile…

War Ihre Wahl von Claudel und insbesondere seiner „Trilogie“ von dem Wunsch bestimmt, in dieser Lage eindeutig Position zu beziehen, sich auf die Seite des Glaubens zu schlagen? Oder haben in erster Linie die Figuren Claudels, seine szenischen und poetischen Qualitäten Ihre Wahl veranlasst?

St.B. : Eher das zweite. Das andere ist etwas, das ich eher zur Diskussion stellen würde, da kann ich keine Position einnehmen. Natürlich ist es interessant, dass sich das im Moment in der Gesellschaft abzeichnet. Es gibt ja auch eine von Intellektuellen geführte Debatte sozusagen, wie soll ich sagen, die wollen ja wieder die Liturgie von vor 200 Jahren haben, ja? Herr Mosebach u.s.w. Das wird übrigens von Katholiken auch vehement bekämpft. Man muss eine solche Debatte inhaltlich und nicht ästhetisch führen. Das sind innerkirchliche Diskussionen, mit denen ich in Berührung gekommen bin, die ich interessant finde. Also es geht nicht darum, zu zeigen: wir brauchen diesen Glauben wieder, oder so. Ich finde, was man zeigen kann, das ist, wohin der Glaube führen kann. Es gibt Leute, die sehr stark sind durch ihren Glauben, es gibt aber auch Leute, die fanatisiert sind durch den Glauben. Man sieht dann auch Leute bei Claudel, die den Glauben bekämpfen, die darüber unter Umständen unglücklich werden, oder auch nicht. Claudel hat ja, wie soll man sagen, so eine merkwürdige Lust daran zu zeigen, dass die Figuren, die ungläubig sind, immer besser dran sind als die, die gläubig sind. Zumindest auf dieses Weltliche betrachtet, da muss man schon wirklich transzendent denken, um dann doch das Leiden auf der Erde zu entdecken. Aber das war ja auch nicht wirklich Claudels Leben Es bleibt einfach sehr ambivalent. Und es ist diese Ambivalenz, die ich so interessant finde.

M.H. : Claudels Ultra-Katholizismus, sein Glaubenshochmut und dichterischer Eigensinn im Umgang mit Gott haben ihm unter den ‚Rechtgläubigen’ in Frankreich viele Feinde gemacht. Im laizistischen Frankreich ‚des lumières’ musste er auch mit den Angriffen der modernen Republikaner rechnen.

Und diese Anfeindungen waren ja nicht unbegründet. An die Stelle der Glaubensherrschaft ist dank des befreiten Denkens seit der Aufklärung – jedenfalls im Westen Europas – die bürger-liche Ethik getreten: die Menschen- und Bürgerrechte, die Trennung von Staat und Kirche, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die Idee sozialer Gerechtigkeit und einer unabhängigen Justiz… Diese für uns nach wie vor zentralen Werte mussten mühsam erkämpft und müssen weiterhin hierzulande und global verteidigt werden.

Doch all dieses ist offenbar vielen unserer europäischen Zeitgenossen nicht mehr genug. Vielleicht weil uns dieser Besitz heute so selbstverständlich zu sein scheint. Gewiss fänden sich aber nur wenige, die einer Rückkehr zur Theokratie zustimmen wollten wie Claudel sie

zum Beispiel in seinem zweiten Drama „Die Stadt“ geschildert hat …

Finden wir in Claudels Werken einen Zugewinn, den wir uns zu eigen machen können, ohne unsere kulturellen Errungenschaften in Frage zu stellen? Zugespitzt gefragt: Kann man Claudels berechtigter Zeitkritik zustimmen und zugleich seinen Gott rechts liegen lassen?

St.B. : Interessante Frage, schwer zu beantworten … Was Sie beschrieben haben, ist auch ein Zeitgefühl, die Skepsis vor den fast tabuisierten Errungenschaften. Die ja von Claudel im ersten Teil der Trilogie geäussert, unter anderem Vorzeichen erzählt werden: Wenn dieser Turelure sehr sehr plausibel für die Menschenrechte plädiert und auch für die Errungenschaften der Französischen Revolution – und man weiß gleichzeitig, das ist ein Massenmörder, der das sagt, er hat Menschen massakriert. Da kratzt man an etwas und sieht es vielleicht auch wieder in einem anderen Licht. Das finde ich interessant, dass die Kritik auf einem solchen Niveau formuliert wird, wo dann Sygne sagt: Wie frei sind denn die Menschen? Frei wie die Tiere. Was bedeutet eigentlich Freiheit? Das finde ich auch immer wieder total interessant bei Claudel, das ist auch etwas, worüber Ratzinger schreibt, die ganz große Frage im Moment – wie gehen wir eigentlich mit der sogenannten Freiheit um, die wir haben, ist das überhaupt die Freiheit, die wir wollten? Und wie benehmen wir uns in dieser Freiheit, hilft uns diese Freiheit, gute Menschen zu sein? Oder werden wir dann doch eher wieder Tiere, die sozusagen nur triebgesteuert sind? Also Stichwort Pornografisierung der Gesellschaft, auf die ich ja auch kurz eingegangen bin im „Harten Brot“. Was für mich auch ein Thema ist: Freiheit und Pornografie, pornografische Freiheit. Und das sind natürlich Fragen, die nicht unbedingt davon abhängig sind, ob man jetzt den katholischen Glauben annimmt. Das sind letzten Ende politische Fragen, soziale Fragen, philosophische Fragen. Es geht tatsächlich immer darüber hinaus. Ich glaube, das Wichtige ist, dass man Claudel aus dem katholischen Kontext eigentlich herauslöst. Nicht, dass man den katholischen Kontext ausser acht lässt, der ist wichtig, das Nest, aus dem heraus er schreibt. Aber dann geht es einfach weiter. Es ist nicht einfach nur ein Beitrag zur Kirchendebatte.

M.H. : Der Diplomat Claudel lernte in langen Dienstjahren Asien – China und Japan – kennen und mehr als schätzen: lieben. Was Japan betrifft, fühlte er sich hingezogen zu einem Land, das an die Existenz unendlich vieler Gottheiten glaubt, ein Land auch der friedlichen Koexistenz des animistischen Shinto und des Buddhismus.

In einem Brief an Mallarmé (vom 24.12.1895 aus Shanghai) schrieb Claudel: „China wuchert üppig, ungeordnet aus den tiefen Quellen des Instinkts und der Tradition. Mir ist die moderne Zivilisation ein Greuel, und ich habe mich immer fremd darin gefühlt. Hier hingegen erscheint mir alles natürlich und normal.“ („Auswahl“ S.116).

Der Dichter Claudel verfocht hingegen eine radikale ‚propaganda fide’ für den einen Gott der Christen (den er freilich ganz seinem dichterischen Willen unterworfen hat). Vor der Claudelschen Glaubensradikalität schreckten und schrecken viele Menschen zurück.

Welchem Weg sollte eine spirituelle Erneuerung – wenn sie uns denn beschieden sein sollte – in Zukunft folgen: der Wegweisung Claudels zu seinem alleinseligmachenden Gott

oder der individuellen Wahlfreiheit in unserer globalisierten Welt?

St.B. : Das Problem ist ja, dass, wenn wir uns eine Religion zusammenstellen wie wir uns das Essen in einer Lebensmittelabteilung zusammenstellen, Religion aus dem Supermarkt, schnäppchenhaft erstanden, also sozusagen das Beste von allem – ein bisschen Buddhismus, ein bisschen Shintoismus, ein bisschen Islam, ein bisschen Kabbala, ein bisschen Cristentum – einfach so, dass es einem wieder wohl ist, sozusagen eine Wellness-Religion, würd ich mal sagen, dann ist die Frage, ob das wirklich Religiosität ist, die Frage, ob das wirklich mit einer dezidierten Hingabe, mit einem Bekenntnis zu tun hat, gerade auch mit Dingen, die vielleicht unangenehm sind oder sein können, mit Selbstüberwindung und Reinigung. Ob ich selbst dazu in der Lage bin, mich auf so eine Reise zu begeben, das weiß ich gar nicht, ich bin ein Kind unserer Zeit und merke, dass mich solche Fragen interessieren. Aber es ist schwer zu sagen, ob das wirklich Religiosität ist. Da finde ich schon, dass diese Sturheit, diese Ausschliesslichkeit, auch das Totalitäre von Claudel erstmal als eine Herausforderung wirklich interessanter ist. So fremd es mir aber auch ist. Auch dazu habe ich ein sehr ambivalentes Gefühl … Ich halte es aber für einen Widerspruch, sich Religion einfach irgendwie zusammen zu basteln. Das sehe ich schon als ein Problem.

M.H. : Wissenschaftler und Technologen sind weltweit im Dauereinsatz – nicht zuletzt im Wettlauf der führenden Volkswirtschaften der USA, China, Japan, der EU um ihre Machtpositionen. Wenn nicht alles täuscht, werden ihre Findungen und Produkte die Welt unaufhaltsam und nachhaltig verändern – in einer der Französischen Revolution mindestens vergleichbaren Zeitenwende.

Es geht um die Sicherung von Energie, Wasser, Ernährung, die Bewahrung des Friedens für eine zunehmende Weltbevölkerung. Es geht nicht zuletzt darum, ein diesen Zielen

zuträgliches Gleichgewicht von Natur, Klima und Umwelt zu erhalten. Und das geht alle an. Mit anderen Worten: Gewiss muss sich hierauf die Politik tatsächlich und weltweit einstellen, doch in erster Linie geht es um individuelle Selbstkontrolle und Vernunft. Um eine neue Bescheidenheit und einen gewissen Altruismus. Es geht um das ‚Prinzip Verantwortung’, das erlernt und praktiziert sein will. Wie stets in der Auseinandersetzung mit mächtigen Gegnern und ihren egoistischen Zielen.

Auch der Zivilisationskritik Claudels liegt die Vision eines Neuen Menschen zugrunde. Für ihn haben sich, wie er, viele seiner Zeitgenossen stark gemacht, manche ebenfalls für einen aus religiöser Hinwendung runderneuerten Menschen.

Die Frage jedoch ist: Geht die Herausforderung durch die Zukunft der Erde und der Menschheit nicht weit über das hinaus, was eine bloß spirituelle Renaissance leisten könnte?

St.B. : Ja klar, die Herausforderung ist ja gewaltig, dass wir mit einer Verantwortung belastet sind wie der Mensch bisher vielleicht noch zu keiner Zeit. Das fängt eigentlich an mit der persönlichen Freiheit, mit der Entscheidungsfreiheit. Das ist schön. Aber das bedeutet, dass wir sehr viel Eigenverantwortung tragen, der Staat zieht sich immer weiter zurück … Da kommt noch sehr viel Verantwortung auf uns zu, jeder einzelne von uns muss sozusagen auch noch die Welt retten. Das haben normalerweise immer Götter oder Helden für uns getan. Jetzt merken wir langsam, wir sind’s vielleicht selber, die in der Verantwortung stehen, und die wird irgendwie übermächtig. Das könnte natürlich auch zu einer Art großer Lähmung führen, und das wäre eine große Gefahr. Da ist es eben die Frage, ob nicht eine Religion, wie immer sie beschaffen ist, nicht auch eine Entlastung schaffen kann, etwas Haltgebendes, Strukturgebendes oder so … Ich begreife das schon, es gibt so etwas wie eine Neuentdeckung der Bürgerlichkeit, eine Neuentdeckung von Werten, eine neue Religiosität u.s.w. Ich glaube, man kann darüber lachen oder spötteln. Aber auf der anderen Seite muss man dieses Bedürfnis ernst nehmen, dass Menschen in irgendeiner Weise Halt suchen, sich auch irgendwo einordnen wollen. Sie wollen ja gar nicht unbedingt alle immer mit Düsenjets um die Welt fliegen und alles einnebeln oder so … Damit wäre ja auch wieder eine Hoffnung verbunden, der Mensch als Vernunftwesen, der es schafft, diese Dinge zu denken. Die Globalisierung ist ja so eine zweischneidige Geschichte. Einerseits verursacht die Globalisierung gerade diesen unglaublichen Verschleiss an Ressourcen, auf der anderen Seite gibt es nur über die Globalisierung das Bewusstsein, in welcher Lage wir sind. Ich glaube, es waren noch nie in der Geschichte so viele Menschen so aufgeklärt, so bewusst. Das merkt man auch, selbst im hintersten Dschungel gibt es irgendein Bewusstsein dafür dank der Medien, dank der Vernetzung. Es kann bald niemand mehr sagen, er hat’s nicht gewusst. Und das könnte tatsächlich dazu führen, dass man die Dinge doch noch in den Griff kriegt. Das sind enorme Aufgaben, das ist ja klar, und es geht nur, wenn alle daran arbeiten.

M.H. : Das war meine letzte Frage. Wollen Sie – ohne eine weitere meiner formalen Fragen – noch etwas zu Claudel und zum univers claudélien hinzufügen. Quasi als Schlusswort?

St.B. : Ach, da gäbe es so viel was man noch sagen könnte … Ja, es gibt dieses Universum, wie Sie sagen, das Claudel in seinen Stücken zustande gebracht hat und beschreibt. Das ist eine ganze Welt. Und mehr als das, es ist auch Himmel und Hölle, katholisch im Sinne des Allumfassenden, in dieser barocken Vielschichtigkeit, das finde ich toll.